Frage (Thomas Fues): Welche Stationen Ihres beruflichen Lebens haben Sie in besonderer Weise geprägt und auf die Leitung der Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsens vorbereitet?
Roter Faden und inhaltliche Schwerpunkte
Antwort Léontine Meijer-van Mensch (LMvM): Es gibt einen roten Faden und inhaltliche Schwerpunkte, die sich durch mein Leben ziehen. Um ganz früh anzufangen: Ich habe Ideengeschichte und Jüdische Studien studiert und bin dann von Amsterdam nach Jerusalem gegangen. Dort wohnte ich in einer Studierenden-WG zwischen lauter deutschen Damen. Das fand ich zunächst schwierig, weil ich doch in Israel auf der Suche nach meiner jüdischen Identität war. Es stellte sich aber schnell heraus, dass das ganz phantastische Frauen waren. Sie waren mit ähnlichen Fragen wie ich zum Studieren nach Israel gekommen. Sie wollten sich mit Erinnerungskultur und Verantwortungsübernahme für geschichtliches Unrecht befassen und herausfinden, was das für ein gemeinsames Weiterkommen bedeutet. Diese Frauen sind zum Teil bis heute meine Freundinnen geblieben – nach fast 30 Jahren.
Aufbaustudium in Frankfurt/Oder
Anschließend bin ich nach Berlin umgezogen und habe dort weiter studiert. Ende der 1990er Jahre war ich mit dem Studium fertig und fragte mich, was ich mit so einer intellektuellen, praxisfernen Ausbildung machen könnte. Zu der Zeit sprossen gerade Aufbaustudiengänge und Postgraduierten-Programme aus dem Boden für die doch sehr praxisfernen Geisteswissenschaftler*innen. So habe ich in Frankfurt/Oder ein Aufbaustudium mit dem Fokus „Schutz der europäischen Kulturgüter“ begonnen. Dort habe ich Kurse zu u.a. Denkmalpflege, Jura, Projektmanagement und Museologie belegt. Das fand ich total spannend.
Neues Museumsverständnis
Teil des Studiums war ein Praktikum, wo ich mich mit der Digitalen Rekonstruktion von Synagogen, die in der NS-Zeit zerstört worden sind, beschäftigte. Das wurde dann zu einer Ausstellung, die in der Bundeskunsthalle in Bonn gezeigt wurde. Das war mein Eingangsticket für das Jüdische Museum Berlin, das es zu dem Zeitpunkt nur als Gebäude gab. Die wollten ein sehr heterogenes Team aufbauen, jung und alt, deutsch und nicht-deutsch, jüdisch und nicht-jüdisch. Ich hatte ein Profil anzubieten, das für die Institution interessant war, und hatte das große Glück, eingestellt zu werden. Das war mein Eintritt in die museale Welt. Im Jüdischen Museum Berlin hatten wir zwei Projektleiter aus Neuseeland. Diese brachten ein Museumsverständnis mit, was in Europa Anfang der 2000er Jahre unbekannt war. Der Fokus lag auf Interaktion, auf Bildung und Vermittlung und auf Besucherforschung. Die Beiden waren prägend für meinen späteren Blick auf das Museum. Es war eine großartige Erfahrung für jemand, die gerade mit dem Studium fertig ist.
Léontines Handschrift im Kindermuseum
Hier beim Jüdischen Museum Berlin habe ich herausgefunden, was ich gerne machen möchte, nämlich Reflektieren über meine praktische Tätigkeit. Museologie wurde immer wichtiger als Geschichte und Judaistik für mich. Jahre später ging ich wieder zurück ans Jüdische Museum Berlin. Dort ist Erinnerungskultur ein wichtiger Bereich, neben Bildung und Vermittlung. Dazu die Frage, was bedeutet so ein Haus in einer sehr diversen Stadt. Das dazugehörige Kindermuseum mit seiner zentralen Erzählung zur Arche Noah ist ein niederschwelliges Angebot für Familien in der direkten Nachbarschaft. Es trägt eine deutliche Léontine-Handschrift. Darauf bin ich heute noch sehr stolz.
Museum Europäischer Kulturen in Dahlem
Davor war ich stellvertretende Direktorin im Museum Europäischer Kulturen in Berlin-Dahlem. Das ist ein ethnologisches Museum. Gleichzeitig ist es eine Art von Stadtmuseum, das sich mit der diversen Gegenwart befasst, eines der spannendsten Museen in Berlin. Nachdenken über die Relevanz von Museen und Erinnerungskultur als zentrale Fragen haben mich immer in den verschiedenen beruflichen Stationen begleitet. Dazu kommen museale Ethik und theoretische Museologie.
Surinam und Versklavung
An der Amsterdamer Hochschule der Künste, wo ich gelehrt habe, ging es auch um Sklaverei und Erinnerungskultur. Und daraus abgeleitet die Frage: Wie heterogen und pluriform erinnern wir eigentlich? In diesem Prozess wurde die Erinnerungskultur zum Kolonialismus immer wichtiger für mich. Deshalb ist es für mich als Niederländerin eine Ehre, dass ich mich in Herrnhut mit der Geschichte der Herrnhuter Gemeinschaft und der Sklaverei, die intrinsisch Teil der niederländischen Geschichte ist, auseinandersetzen darf. Das ist sehr bewegend für mich. Ich hoffe, dass der Herrnhut-Surinam-Kontext einen wichtigen Platz in meiner künftigen Arbeit als Museumsleiterin in Rotterdam einnimmt. Denn ich habe schon in den letzten Jahre von Herrnhut aus mit niederländischen Künstler*innen zusammengearbeitet. Mit ihrer kommunikativen Kraft repräsentiert die holländisch-surinamische Community eine starke Stimme.
Restitution und Repatriierung
Restitution und Repatriierung waren nie Fremdwörter für mich. Innerhalb von ICOM (International Council of Museums) habe ich zusammen mit anderen das International Committee for Collecting (COMCOL) gegründet. Entsammeln, Restitution und Repatriierung waren von Anfang an Teil der ethischen und methodologischen Fragen, mit denen wir uns beschäftigt haben. Ich habe sehr viel Respekt für das, was meine Vorgängerin in Sachsen, Nanette Snoep (heute Direktorin des Rautenstrauch-Joest-Museums in Köln), gemacht hat. Ich konnte gut daran anknüpfen und diesen Weg ein Stückchen weitergehen. Es ist so schade, wenn jemand Neues kommt und alles ist festgezurrt. Es gibt häufig zwei Herangehensweisen beim Antritt eines neuen Amts. Entweder krempelt man alles Vorgefundene um, weil man seine eigene Handschrift sichtbar machen möchte. Oder man versteht sich als „Zwischenpapst“. In meinem Fall hatte Nanette Snoep viel angestoßen und ich konnte die letzten fünfeinhalb, fast sechs Jahre in diese Richtung weiterwirken.
Glied in einer Kette
Wenn ich jetzt gehe, bleibt genug zu tun für meine Nachfolge. Das ist eher der niederländische Stil, wie man auch an Paul Spies (Leiter des Stadtmuseums Berlin) sieht, der sich demnächst ebenfalls neu orientieren wird.
Ich glaube, dass die deutsche Kulturlandschaft etwas von dieser Praxis lernen könnte. Dass du dich immer als Glied in einer Kette siehst. In meinem Fall gehen aktuell viele Mitarbeitende in Rente. Mein Nachfolger oder meine Nachfolgerin kann also demnächst entsprechende Neueinstellungen vornehmen. Im Prozess „ReInventing Grassi“ haben wir wichtige Schritte vollzogen. Es bleiben aber weitere Herausforderungen, die jetzt angegangen werden müssen. Ich hoffe, dass jemand meine Nachfolge antritt, die in diese Richtung weitermacht. Aber natürlich auch eigene Akzente setzt. Das ist auch gut so. Das aber im Bewusstsein über das, was vorher geleistet worden ist. Jetzt müssen wir erst mal die Landtagswahlen in Sachsen am 1. September 2024 abwarten und dann schauen, wie’s weitergeht. Wenn es richtig dystopisch wird, kommen ganz andere Fragen auf uns zu, denen wir uns dann stellen müssten.
Frage: Welche Aspekte Ihrer Vorstellung eines dekolonialen Museums konnten Sie in Sachsen, zumindest teilweise, verwirklichen?
Memory Turn in Sachsen
Antwort LMvM: Was ich sehr gut machen konnte, weil ich schon so lange damit beschäftigt bin, ist, dass alle drei Museen (Leipzig, Dresden, Herrnhut), für die ich verantwortlich bin, vor allem aber das Grassi-Museum für Völkerkunde in Leipzig einen Memory Turn, eine Erinnerungswende, vollziehen. Das heißt, genau darauf zu gucken, was das koloniale Erbe bedeutet. Die intrinsische Verflochtenheit dieses Hauses (Grassi Leipzig) mit dem deutschen und europäischen Kolonialismus insgesamt zu verstehen. Die Herausforderung besteht darin, diesen historischen Zusammenhang noch viel stärker in den Ausstellungen abzubilden. Und unsere Haltung zu Restitution und Repatriierung entsprechend zu entwickeln. Diese Herangehensweise kritisch-reflexiv in einen Erinnerungsdiskurs und natürlich auch in die Erinnerungspolitik einzubetten, das habe ich gemacht.
Mein persönlicher Rucksack
Ich bin mir aber total bewusst, dass das mein persönlicher Rucksack ist, den ich mitbringe. Im Hinblick auf die neuen Fragen in Richtung Zukunft, also wie geht es weiter mit dem ethnologischen Museum im 21. Jahrhundert, spüre ich, das ich das nicht machen kann. Und wenn ich es könnte, würde ich es nicht machen wollen. Das muss meines Erachtens jemand aus einem hyperdiversen Kontext oder aus dem Globalen Süden sein, der/die diese Aufgabe übernimmt. Das wäre enorm wichtig für solche Häuser in einem post-ethnographischen Zeitalter. Dafür braucht es auf dem Direktorenposten eine Person mit einem anderen Rucksack als ich. Mein Rucksack war wichtig für die dekoloniale Aufarbeitung. In der Hinsicht habe ich in den letzten fünf Jahre sehr viel machen können. Ich bin froh, dass ich einen Beitrag geleistet habe und dabei auch die Politik fordern konnte. Jetzt sehe ich, dass dieses Fenster geschlossen wird. Aber es wird aber auch wieder aufgehen, weil der Druck zu groß ist und Europa sich nicht immer weiter provinzialisieren kann.
Für Zukunftsfragen eine andere Person
Aber die Beantwortung der Frage, wie so ein Museum der Zukunft aussehen sollte, muss von jemand Anderem kommen. Man könnte kritisch sagen: Léontine, ganz schön, was du gemacht hast, aber du hast dich enorm um den eigenen institutionellen Bauchnabel gedreht. Ja, das stimmt, aber das brauchten meines Erachtens das Museum und die ethnologische Landschaft, die museale Landschaft insgesamt, zu dem Zeitpunkt. Für die Zukunftsfragen braucht es jetzt eine andere Person. Es gibt weltweit so viele tolle Museumsleute und -denker*innen. Man merkt diese Umstellung schon beim Haus der Kulturen der Welt in Berlin, wo eine Person mit nicht-europäischer Biographie Direktor ist. Ich hoffe nicht, dass Bonaventure Ndikung der Einzige in der Hinsicht in ganz Deutschland bleibt. Weil Sachsen die letzten Jahren eine Vorreiterrolle im ethnologischen Kontext gespielt hat, würde ich mich freuen, wenn diese Position weiter eingenommen werden kann. Wenn jemand in zehn Jahren zurückschaut auf diesen Prozess, beispielsweise für eine Dissertation, würde er/sie vielleicht sagen, dass Léontine mit ihrem spezifischen Hintergrund in den fast sechs Jahren in Sachsen genau die Richtige für die erinnerungspolitische Aufarbeitung war.
Frage: Was waren Höhepunkte Ihrer beruflichen Tätigkeit in Sachsen?
Bonvenon-Raum als Dritter Ort
Antwort LMvM: Wozu ich immer noch stehe, ist die Einrichtung des Bonvenon-Raums (Willkommen auf Esperanto). Ich denke, so eine Art von Willkommensbereich braucht jedes Museum als „Dritten Ort“. Auch innerhalb des Museums gab es bei uns ein bisschen Kampf darüber. Man gibt Ausstellungsräume ab. Was baut die Direktorin da eigentlich? Jetzt merken wir, dass dieser Raum so wichtig ist für die Rolle, die wir in der Stadtgesellschaft haben wollen. Für die Art von Community-Arbeit, die wir dort machen. Es gibt eine Kneipe, wo Leute zusammenkommen, die sich vielleicht niemals in der Welt draußen begegnen würden. Die Situation ist sicherlich für jedes Museum anders. Vielleicht ist gar nicht der Raum an sich wichtig, sondern die Frage, wie ein offener Ort gestaltet werden kann. Darüber machen wir uns immer noch viel zu wenig Gedanken.
Begegnung mit den Ahnen
Ein anderer Raum, der für mich sehr wichtig ist, ist der Raum der Erinnerung, wo es um Restitution und Repatriierung geht. Das ist ein abtrennbarer Teil des Museums, manchmal offen, manchmal geschlossen. Je nachdem, was dort stattfindet. Er ist für Communities vorgesehen, wenn sie ihren Ahnen (Ancestral Remains) in einem würdevollen Rahmen begegnen wollen. Wie kann man für dieses Ereignis einen ganz anderen Umgang im Haus finden? Diese Einrichtung wird wohl bleiben. Ich kannte ein solches Konzept aus der kritischen musealen Literatur, die sich mit indigenen Praktiken befasst. Aber in einem europäischen Museum gab es dafür kein Vorbild. Dieser Ort wurde zusammen mit meiner Kollegin Birgit Scheps–Bretschneider und vielen Vertreter*innen der Communities konzipiert, um sicher zu stellen, dass er sowohl in ethischer als auch praktischer Hinsicht funktioniert. Sehr viele Häuser ähnlich wie wir bräuchten solche Räume. Mir war es wichtig, den Raum im schönsten Teil des Museums zu platzieren, ihn also nicht wegzustecken.
Leitlinie für Umgang mit Ancestral Remains
Für den Umgang mit den Ahnen haben wir eine Leitlinie geschaffen. Die richtet sich auch an die eigenen Mitarbeitenden. Was bedeutet es, wenn du mit den Vorfahren der Communities in Kontakt trittst? Wie kannst du dich da selber schützen? Bitte sag‘, wenn du dich unwohl fühlst. Wir wollen solche Tabus besprechbar machen und gemeinsam einen Weg zum Umgang mit heftigen Erlebnissen und dem kolonialen Erbe finden. Auslöser war der Besuch einer Gruppe um Bénédicte Savoy. Sie wollten ein Gefäß anschauen. Als meine Kollegin aus der Sammlungsverwaltung das Gefäß öffnete, wurden Human Remains sichtbar. Das war ihr sehr peinlich. Sie war sehr emotional berührt und hat den Deckel gleich wieder zugemacht. Das war wie ein symbolischer Vorgang. Halten wir jetzt den Deckel drauf oder öffnen wir und gehen proaktiv vor? Es ist wichtig, aus Fehlern zu lernen. Die Fehler nicht als Versagen zu sehen, sondern den richtigen Umgang damit finden. Dieser Besuch war peinlich für uns, er hat uns aber viel gelehrt. So wünsche ich mir das Vorgehen für die deutsche museale Landschaft, denn Deutschland ist nicht bekannt für seine Fehlerkultur. Offen mit den eigenen Fehlern umzugehen hilft uns, weiterzukommen. In der erwähnten Handreichung definieren wir ethische Prinzipien, wie wir mit Besucher*innen und wie wir intern mit Human Remains umgehen. Das hätten wir nie hinbekommen, wenn wir nicht selber diesen Fehler, das peinliche Ereignis erlebt hätten.
Backstage-Bereich öffentlich machen
Ähnlich wichtig finde ich den Care Room, wo wir die Arbeit an unseren Objekten öffentlich präsentieren. Der ganze Backstage-Bereich, wo wir das, was sonst immer verborgen bleibt, zeigen, muss viel stärker nach vorne gebracht werden. Wir wollen öffentlich machen, was unsere Wunden sind, aber auch grundsätzlich unsere Praktiken sichtbar werden lassen. Generell geht es darum zu verdeutlichen, dass das Museum mehr ist als eine Ausstellung. Ich hoffe, dass wir Impulse in diese Richtung gegeben haben.
Praktizierte Transdisziplinarität
Als weiteres Highlight sehe ich die praktizierte Transdisziplinarität in unseren Museen. Museum und Gegenwartskunst gehören einfach zusammen. Ein tolles Beispiel dafür ist die künstlerische Intervention in Dresden von Emeka Ogboh „Vermisst in Benin“. Er zeigte wunderbare Bilder von den Benin-Bronzen zu einem Zeitpunkt, wo wir uns entschieden hatten, die Originale nicht zu präsentieren, solange die Eigentumsübertragung nicht vollzogen war. Viel hat sich in den Monaten danach entwickelt, so dass wir die Bronzen wieder ausstellen konnten. Meine erste Personaleinstellung war die einer Kuratorin für Globale Kunst. Ich wünsche mir, dass mehr ethnologische Museen den transdisziplinären Weg gehen. Und umgekehrt andere Arten von Museen ethnologische Arbeiten zeigen und Ethnolog*innen einstellen, weil die Praktiken und Diskurse sich glücklicherweise so vermischt haben.
Künstlerische Intervention von Para zu laut?
Man kann sich im Nachhinein fragen, ob die Eröffnungsperformance der Künstlergruppe Para zur Rückgabe der Spitze des Kilimandscharo im Grassi Leipzig gut oder zu laut war. Ich glaube, zu dem damaligen Zeitpunkt war die künstlerische Intervention nicht zu laut. Es gab positive, aber auch sehr heftige negative Reaktionen. Angesichts des andauernden russischen Überfalls auf die Ukraine und nach dem 7. Oktober könnte man fragen, ob es jetzt das richtige Signal wäre? Ich möchte selber jetzt stärker nach Verbindungen suchen. Das hat wahrscheinlich mit meiner eigenen Rekalibrierung zu tun, weil wir jetzt in einer anderen Welt leben als vor fünf Jahren. Ich würde im Nachhinein im Vorfeld wichtige Akteur*innen besser mitnehmen und mehr erklären, was die Künstler*innen vorhaben. Ich habe wahrscheinlich die Wichtigkeit dieses Treppenaufgangs für Leipzig unterschätzt. Ich habe unterschätzt, wie emotional dieses Treppenhaus für Einige ist und welche biographischen Erlebnisse damit verbunden sind. Die Para-Aktion als solche mit dem partizipativen Geldeinsammeln, um die Bergspitze des Kilimandscharo zu restitutieren, würde ich allerdings wieder ermöglichen.
Frage: Auf welche Weise haben Sie versucht, die Aufarbeitung des kolonialen Erbes multiperspektivisch oder multidirektional (im Sinne von Michael Rothberg) zu gestalten?
Überwindung der Sprachlosigkeit
Antwort LMvM: Die Ausstellung, wo das am weitgehendsten, fast Eins zu Eins, als multidirektionale Erinnerung umgesetzt wurde, ist „Sprachlosigkeit“ im Japanischen Palais in Dresden. Das geschah leider unter Corona-Bedingungen, so dass wir bald wieder schließen mussten. Über diese Ausstellung bin ich besonders froh und stolz (blödes Wort). Ausgehend von Paul Celan und der Bedeutung der Poesie ging es um die Überwindung der Sprachlosigkeit nach kollektiven Traumata. Für die Konzeption spielte das multidirektionale Denken eine große Rolle. Wir haben beispielsweise jüdisches Leben in Dresden, Traumaarbeit in Israel mit Überlebenden in der Gegenwart und das Schicksal der „Trostfrauen“ unter japanischer Besatzung miteinander verbunden. Viele Erfahrungen, die miteinander in einem Gebäude waren, nicht vergleichend oder hierarchisierend, sondern miteinander verknüpft im geteilten Versuch, die traumatische Vergangenheit zu überwinden.
Michael Rothberg in Dresden
Dieses Vorgehen reizt mich sehr am multidirektionalen Ansatz. Ich kannte das Buch dazu bereits seit Jahren. Es wurde in viele Sprachen übersetzt und fließt in viele Kontext mit ein. In Deutschland aber ist der multidirektionale Ansatz ein heißes Eisen und Michael Rothberg wurde zu Unrecht hart angegangen. In der Dresdener Ausstellung kam das Wort multidirektional kein einziges Mal vor. Aber ein Aufsatz von Michael Rothberg wurde in den Katalog aufgenommen. Ich bin immer noch sehr dankbar, dass wir diese Publikation gemacht haben. Ich habe aber keine Lust auf Instrumentalisierung und benutze deshalb den Begriff, ohne ihn explizit zu nennen. Michael Rothberg hat am Rahmenprogramm teilgenommen und über multidirektionale Erinnerung gesprochen. Er fand die erwähnte Plakataktion von Emeka Ogboh sehr schön und konnte sich aus seiner Theoriebildung heraus damit identifizieren.
Habe intersektionale Solidarität vermisst
Für mich ist der Begriff der intersektionalen Solidarität von zentraler Bedeutung. Meine Arbeit, mein Sein, das Einbringen meiner persönlichen Anliegen sind geprägt von der Erfahrung intersektionaler Solidarität. Nach dem 7. Oktober habe ich die vermisst, muss ich ehrlich sagen. Bei manchen postkolonialen Weggefährten habe ich das Gefühl, wir haben uns ein bisschen verloren. Auf der anderen Seite finde ich das totale Bashing von Postkolonialem und die damit verbundene Instrumentalisierung für rechte und revisionistische Erinnerungspolitik auch sehr schwierig. Ich habe das Gefühl, dass ich da so ein bisschen zwischen den Stühlen stehe. Deshalb rekalibriere mich zur Zeit. Ich möchte meinen roten Faden nicht verlieren, professionell und privat. Das ist es, was ich mir nicht nehmen lasse. Letztendlich geht es um die Frage, wohin diese Häuser gehen. Rothbergs Theorie ist in diesem Zusammenhang wichtig für mich. Ich finde es schade, dass Deutschland Post-Documenta und Post-7. Oktober in einen Zustand der Verkrampfung geraten ist. Das sind keine guten Zeiten.
Frage: Wie haben Sie die angestrebte Öffnung zu den Stadtgesellschaften in Leipzig und Dresden umgesetzt? Ist es Ihnen gelungen, bislang eher museumsferne Bevölkerungsgruppen und die junge Generation anzusprechen?
Vernetzung mit der Stadtgesellschaft
Antwort LMvM: Man könnte sagen, was Léontine da die letzten Jahre in Leipzig gemacht hat, ist, das moderne stadtmuseale Gerüst in ein ethnologisches Museum zu bringen. Das bedeutet viel Outreach, um mit Partner*innen, mit Netzwerken in der Stadtgesellschaft gemeinsam weiterzukommen. Das spiegelt die Idee eines Netzwerkmuseums mit allen Communities. Die Vernetzung mit der Stadtgesellschaft erfordert leider sehr viel Arbeit und ist viel zu stark auf Drittmittel angewiesen. In den letzten Jahren hatten wir gute Drittmittel-Bedingungen. Jetzt fallen Drittmittel weg oder werden stark gekürzt. Dann ist die Vernetzungsarbeit das Erste, was wegfällt, obwohl es eigentlich das Wichtigste ist. Wie können wir dafür sorgen, dass solche Projekte nachhaltig werden?
Kinderkuratorium im Grassi Leipzig
Meine Erfahrung in der Netzwerkarbeit ist, dass es sehr viel um den Aufbau von Beziehungen und Vertrauen geht. Und das braucht Zeit. Is she walking the talk or talking the talk? So haben sich tolle Verbindungen bei uns ergeben. Beispielsweise mit der Organisation „Frauen in Arbeit“, die bei uns ein Nähatelier vor allem mit Frauen aus Syrien betreut. Große Bedeutung hat für mich auch das Kinderkuratorium (bewusst nicht ein Kinderbeirat), dessen Mitglieder bei uns als Kurator*innen kritisch mitwirken wollen. Das sind übrigens alles PoC Kids. Die Frage ist, ob diese Ansätze von meiner Nachfolge weitergeführt werden. Ich bin mir sicher, an meinen Kolleg*innen wird es nicht liegen.
Öffnung zur postmigrantischen Stadt
Wichtig ist die Anerkennung, dass es Strukturen in der Stadt gibt, die tolle Arbeit machen. Grassi und der übergreifende Verbund der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) sind große Tanker, die alles aufsaugen können. Wie kann man dafür sorgen, dass das nicht passiert? Wir haben tolle Beispiele der Zusammenarbeit erlebt. Beispielsweise bei der Ausstellung zur vietnamesisch-deutschen Geschichte der Vertragsarbeiter*innen in der DDR und dem bis heute andauernden Rassismus, die mehr als ein halbes Jahr bei uns gezeigt werden konnte. Aber der dafür verantwortliche Verein hat alle Ehre bekommen. Stadtmuseen sind spannende Orte, die sich der Frage stellen müssen, was Stadt bedeutet in einer postmigrantischen und hyperdiversen Gesellschaft. Leipzig ist zwar nicht hyperdivers, aber postmigrantisch. Wie öffnet man sich unter diesen Bedingungen? Und öffnet man sich, weil es gerade im Hinblick auf Drittmittel opportun ist oder weil man sich intrinsisch öffnen möchte? Man darf aber nicht denken, dass Partizipation einfach ist. Das ist ein steiler Weg zum Glück und kostet wahnsinnig viel Zeit. Es ist aber die einzige Art und Weise, wie wir arbeiten können. Da hilft es natürlich, dass jemand von ganz oben, die Direktorin, sieht, dass das wichtig ist.
Frage: Wo stehen die sächsischen Völkerkundemuseen hinsichtlich der Digitalisierung ihrer Bestände?
Erinnerungspolitische Bedeutung des Archivs
Antwort LMvM: Während der letzten Jahre bin ich bei dieser Aufgabe in allen drei Museen, Leipzig, Dresden, Herrnhut, stark unterstützt worden, auch durch den Freistaat Sachsen. Herrnhut war schon sehr weit, weil es sich um ein viel kleineres Haus handelt. In Dresden wird die digitale Inventarisierung Ende des Jahres abgeschlossen sein. In Leipzig werden wir bis Ende des Jahres zwei Drittel des Bestands erfasst haben, bis auf den Teil, wo wir Schimmelbefall im Depot angetroffen haben. Hoffentlich bekommen wir im nächsten Jahr noch Geld für den Rest. Auch die Textilien sind sehr kontaminiert. Was das genau bedeutet, wussten wir auch nicht, als wir 2019 das Projekt beantragt haben. Im nächsten Schritt wollen wir alles Online stellen. Transparenz ist mir sehr, sehr wichtig. Das Wichtigste, was wir im ethnologischen Museum haben aus erinnerungspolitischer Sicht ist das Archiv, auch da haben wir in den letzten Jahren schon viele Bestände digitalisieren können. Wir hoffen, dass wir die Datenerfassung für Objekte im System der SKD um die jeweilige Bedeutung aus Sicht der Herkunftsgesellschaften ergänzen können.
Frage: Welche Strategien haben Sie entwickelt für den Umgang mit rechtsextremen kulturpolitischen Positionen?
Breite Allianzen aufbauen
Antwort LMvM: Ich habe immer versucht, breite Allianzen aufzubauen. Das politische Feld, in dem sich Menschen positionieren, ist sehr divers, sehr heterogen. Man kann das nicht parteipolitisch abbilden. Ein Beispiel ist die erwähnte Plakataktion von Emeka Ogboh, die das Konzept des Implicated Subject von Michael Rothberg praktisch umsetzt. Diese Benin-Bronzen sind hier in Dresden. Im Königreich Benin (Nigeria) werden sie vermisst. Das hat etwas mit uns allen zu tun. Wir sind alle verwickelt (implicated). Für mich war es eine bewusste Wahl, dieses Thema der Restitution, das so spaltet, an die Öffentlichkeit zu bringen. Es gibt die Befürchtung, dass das ganze Museum durch Rückgaben leer wird. Und dass die Objekte nach der Restitution gleich wieder auf den Markt gebracht werden. Da ist es wichtig, die Zwischentöne auszuleuchten. Wir müssen gesprächsbereit sein und das Gespräch mit Leuten offen halten, die dieser Art von Falschinformationen Vertrauen schenken. Die ständig wiederholte Auseinandersetzung ist sehr anstrengend. Glücklicherweise musste ich das nicht allein machen, sondern immer wieder mit Team zusammen. Der ständige Tropfen höhlt den Stein.
Hätte gern mehr Unterstützung erfahren
Meine Verbindungen mit den Ministerien waren immer sehr gut. Sie haben mir vertraut. Sie haben verstanden, die Léontine macht progressive Politik, aber mit ihr kann man immer noch reden. Es war gut, dass sie gesehen haben, ich bin eine andere Person, als sie in den Medien dargestellt wurde, nicht die postkoloniale
Hexe. Ich habe versucht habe, mit Kolleg*innen und Initiativen Allianzen zu bilden. Wie können wir uns unterstützen, wenn mal wieder jemand angegriffen wird? Es genügt manchmal, eine kurze Email zu schreiben. Ich sehe, was da passiert ist. Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst. Das machen wir zu wenig. Ich hätte selbst gerne mehr davon gehabt. Allianzen auch außerhalb Deutschlands sind notwendig, beispielsweise innerhalb der internationalen Arbeit von ICOM.
Frage: Welche Unterstützung durch Bundesregierung und Länderregierungen wäre nötig, um Restitution von Kulturgütern und Repatriierung von Ancestral Remains voranzubringen?
Aufarbeitung keine Projekt, sondern Daueraufgabe
Antwort LMvM: Ich finde es schade, dass das wunderbare Projekt der Kulturstiftung des Bundes für ethnologische Häuser nach drei Jahren nicht weiter geführt worden ist. Das Linden-Museum Stuttgart, das Museum am Rothenbaum Hamburg und wir haben Mittel bekommen, um einen neuen Weg zu finden. Um zu zeigen, dass es mehr gibt als das Humboldt Forum in Berlin. Bei uns ist es das Programm „ReInventing Grassi“ gewesen. Wir drei Museen hatten unterschiedliche Zugänge, haben uns aber auch untereinander vernetzt. Es wäre schön gewesen, wenn das Projekt weitergeführt worden wäre. Nicht unbedingt mit uns, aber mit anderen Häusern. Denn die Aufarbeitung der ethnologischen Museen ist kein Projekt, sondern eine Daueraufgabe. In Deutschland neigen wir viel zu stark zur Projektitis. Wo bleibt die koloniale Aufarbeitung, wenn sich die politischen Bedingungen ändern und keine Projektgelder mehr fließen? Wenn die Arbeit nicht verstetigt wird, geht vieles, was man aufgebaut hat, verloren. Wir brauchen Dauerfinanzierung für Provenienzforschung und für die Betreuung der Archive. Die Archivanfragen haben sich in den letzten fünf Jahren fast verdoppelt. Aber es gibt weiterhin nur eine Archivarin in Leipzig. In Dresden habe ich zur Zeit gar keinen Archivar.
Frage: Wie beurteilen Sie die politischen Rahmenbedingungen für Restitution und Repatriierung auf der Bundesebene?
Übergreifender Rahmen für Rückgaben
Antwort LMvM: Für die Rückgabe von kolonialem Kulturerbe und Ahnen brauchen wir einen übergreifenden Rahmen, etwa wie die Washingtoner Prinzipien für NS-Raubgut. Dabei stellt sich natürlich die Frage, warum es nur über die Beziehungen von Regierung zu Regierung laufen soll und nicht direkt von Community zu Museum. Klar ist, dass Restitution nicht nur ein europäisches Problem ist, sondern innenpolitische Aushandlungsprozesse in afrikanischen Staaten erforderlich macht.
Europäische Zusammenarbeit vertiefen
Ich würde mich freuen, wenn wir es hinkriegen, stärker transnational zu arbeiten, etwa im Kontext der Europäischen Union. Als Niederländerin kann ich über 400 Jahre koloniale Vergangenheit in Indonesien reden. Sehr viel indonesisches Kulturerbe ist in Deutschland. Wer fühlt sich dafür verantwortlich, die deutsche Regierung, die niederländische? Es gibt Verbindungen von Kurator*innen der Indonesien-Sammlung bei mir in die Niederlande. Auf kollegialer Ebene funktioniert das gut. Wenn man sich mit Indonesien beschäftigt, beschäftigt man sich auch mit den Niederlanden und kennt wahrscheinlich beide Sprachen. Wie können wir transnationale Zusammenarbeit innerhalb Europas ausbauen? Wir brauchen mehr europäische Gemeinsamkeiten. Dann wird der Rückgabeprozess nicht zur Olympiade des Rückgebens, die wir gerade erleben. Ist es Macron, sind wir es? Das tut der Sache nicht gut. Das neue Europaparlament hat eine andere Zusammenstellung. Da wird man sehen, was möglich ist. Ich habe mich immer als Europäerin gesehen und Verbindungen gesucht. Nicht nur in die Niederlande. Zum Beispiel mit Belgien im Fall von Kongo. Bei vielen Beständen ist der Weg nach Frankreich ganz normal. Mit Blick auf Südamerika spielt vor allem Spanien eine Rolle. Wir müssen das alles europäischer denken.
Frage: Was ist Ihnen noch wichtig am Ende des Interviews?
Verlasse das Arbeitsfeld nicht
Antwort LMvM: Vielleicht ist es doch wichtig, nochmal zu betonen, dass ich dieses Arbeitsfeld nicht verlasse. Ganz im Gegenteil. Für ein niederländisches Stadtmuseum wie in Rotterdam sind diese Fragen eminent wichtig, weil du im postkolonialen Kontext agierst. Ich hoffe, dass mir ganz viele Kontakte und Freundschaften erhalten bleiben und noch vertieft werden. I am not leaving the field! Hört sich vielleicht ein bisschen groß an. Ich bin sehr dankbar für das Vertrauen, das ich von vielen Leuten auch aus dem Globalen Süden bekommen habe. Dafür möchte ich mich bedanken, weil es keine Selbstverständlichkeit ist. Die Begegnungen sind in meinem Herzen. Und vielleicht komme ich mal wieder zurück nach Deutschland.