Dekolonial Erinnern … für postkoloniale Beziehungsethik
Decolonial memories … for postcolonial relational ethics

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German Colonial Restitution Monitor

Interview mit MdB Helge Lindh zur deutschen Restitutions-Politik

Der Kulturpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion äußert sich zur Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte und notwendigen politischen Konsequenzen (Interview am 12.04.2024)

Frage Thomas Fues: Welche Position vertreten Sie hinsichtlich der Aufarbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit und welche Schritte in der Bundespolitik sind in diesem Bereich erforderlich?

Standards und Prozeduren für Repatriierung und Restitution fehlen

Antwort MdB Helge Lindh: Mittlerweile sind erste Schritte auf den Weg gebracht. Wir haben aber immer noch keine einheitlichen Standards und Prozeduren für Repatriierung und Restitution. Im letzten Bundeshaushalt ist beschlossen worden, dass es einen Topf geben soll für die Restitution von Artefakten aus kolonialen Kontexten mit Verantwortlichkeit bei der Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Andererseits soll eine Servicestelle im Auswärtigen Amt mit dem Fokus Human Remains eingerichtet und finanziert werden.

In der Praxis stelle ich aber gerade fest, dass es leider noch kein Konzept für den Bereich Human Remains gibt und auch der andere Fonds noch nicht ausgestaltet ist. Wir haben zwar jetzt, was begrüßenswert ist, Geld. Gleichwohl merke ich kritisch an, dass wir auch ohne solche Töpfe schon längst in der Lage hätten sein müssen, solche Prozeduren auf den Weg zu bringen und zu klären, wie die Finanzierung läuft und wie die Abläufe sind.

Ich sage das mit Bezug auf einen aktuellen Fall in Wuppertal (Details siehe unten). Das kann man aber generalisieren. Wir brauchen aus meiner Sicht zwingend genaue Zuständigkeiten, Abläufe und Kontaktpunkte, damit Interessierte in den Herkunftsgesellschaften oder in Deutschland, etwa Privatpersonen, Kommunen, Museen, Kirchengemeinden und zivilgesellschaftliche Initiativen, wissen, an wen sie sich wenden können. Und dort Informationen über Verfahren, Finanzierungsmöglichkeiten, Unterstützung bei Besuchen etc. erhalten.

Respekt und Kontrollabgabe an Herkunftsgesellschaften

Das ist erforderlich, wenn man es ernst meint gegenüber den Herkunftsgesellschaften, wie ich das gerade erfahre im konkreten Fall in Wuppertal. Die Nachkommen der Opfer und die entsprechenden Herkunftsgemeinschaften müssen einbezogen werden. Dabei entstehen Kosten, z. B. durch Delegationsbesuche und Untersuchungen. Aus Gründen der Verlässlichkeit ist es notwendig, dass man vom Einzelfall wegkommt und auf Grundlage von festen Mechanismen tätig wird, die jeweils angepasst werden können. Wir haben schon ähnliche Erfahrungswerte im Bereich des NS-Kunstraubs, wo es aber auch nicht gut funktioniert hat. Das ist die handwerkliche Seite des Respekts und der Kontrollabgabe im Sinne der Herkunftsgesellschaften. Hier sollten wir dienend auftreten und entsprechende Verfahren und Finanzierungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen.

Frage: Im Bundeshaushalt gibt es einen Sperrvermerk, der darauf abzielt, dass die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) und das Auswärtige Amt (AA) ein gemeinsames Konzept für die Rückgabe von Artefakten und Human Remains aus kolonialen Kontexten erstellen sollen. Haben Sie Informationen, inwieweit diese Vorgabe bereits umgesetzt wurde?

Konzept liegt nicht vor

Antwort MdB Helge Lindh: Leider liegt mir dieses Konzept noch nicht vor. Bekannt ist, dass es eine Arbeitsteilung zwischen BKM (zuständig für Kulturgüter) und AA (Human Remains) gibt. Das wurde vereinbart, aber das notwendige Konzept aus dem AA für die Finanzierung steht noch aus. Das ist sehr bedauerlich. Ich dränge heftig darauf, das Konzept rasch fertig zu stellen. Schon vor diesem Beschluss im Bundestag war ja allen klar war, dass man die Verfahren verstetigen und strukturieren muss.

Bisher gibt es jedoch nur Einzelfalllösungen. Manchmal prominente Fälle, wie bei den Benin-Bronzen, wo Bund und Länder gemeinsam tätig geworden sind. Oder kleinere Fälle, die nicht so prominent sind, etwa Initiativen von Museen oder entsprechenden Netzwerken. Es gibt aber keinen eingespielten Modus Operandi. Das vorgesehene Konzept soll ja regeln, wie die Bundesregierung bestimmte Strukturen und Mechanismen institutionalisieren will. Dass dieses Konzept noch nicht vorliegt, ist ein Dilemma. Deshalb gibt es keine eingespielten Abläufe und die Mittel sind nicht verfügbar. Das ist der Punkt, wo wir gerade festhängen.

Frage: Gibt es einen zeitlichen Horizont für die Vorlage des Konzepts?

Spätestens bis zur Sommerpause

Antwort MdB Helge Lindh: Ich erwarte, das ist auch mein Drängen, dass das Konzept in den nächsten Wochen, spätestens bis zur Sommerpause vorliegt. Wenn das so nicht kommt, muss man vorab Lösungen finden. Gegebenenfalls muss man nochmal mit dem Haushaltsausschuss sprechen. Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, wenn Restitutionsprozesse am Geld scheitern, obwohl die Summen nicht exorbitant sind. Und es wäre erst recht ein Treppenwitz der Geschichte, wenn das zusätzliche Geld nicht umgesetzt werden kann, weil die Grundlagen dafür nicht rechtzeitig konzeptualisiert wurden.

Frage: Zur Arbeitsteilung zwischen BKM und AA gibt es kritische Stimmen aus Herkunftsgesellschaften, die einen zentralen Anlaufpunkt im deutschen Regierungssystem wünschen. Was sagen Sie dazu?

Sorgen aus Herkunftsgesellschaften nachvollziehbar

Antwort MdB Helge Lindh: Das kann ich gut nachvollziehen. In meinem Fall erlebe ich das auch so. Es entzieht sich meiner Kenntnis, wie die jetzige Arbeitsteilung zwischen BKM und AA zustande kam. Vielleicht weil BKM für Kunstwerke zuständig ist, das AA für diplomatische Beziehungen.

Ich hätte mir gut vorstellen können, dass man das in eine Hand legt. Oder wenn zwei Häuser verantwortlich sind, eine gemeinschaftliche Federführung beziehungsweise eine gemeinsame Steuerungsgruppe festgelegt werden. Beim BKM geht es um Erinnerungskultur, deshalb auch die Zuständigkeit für Kolonialismus. Andererseits gibt es die bilateralen diplomatischen Beziehungen und damit der Aspekt möglicher Reparationsleistungen, wie wir es von Namibia kennen. Die kulturpolitischen und außenpolitischen Dimensionen sind wichtig, beide Häuser müssen beteiligt werden.

Idealerweise „Alles aus einer Hand“

Ich kann gut die Sorgen aus den Herkunftsgesellschaften nachvollziehen, weil das Risiko besteht, dass durch zwei verschiedene Stellen Unklarheiten und zusätzlicher Zeitaufwand entstehen. Idealerweise würde der Ansatz „Alles aus einer Hand“ verwirklicht. In der Praxis müssen die beiden Häuser aber zusammenarbeiten, weil auch bei den Kunstwerken die Einbeziehung des AA notwendig ist.

Frage: Es laufen derzeit bilaterale Gespräche des Auswärtigen Amts mit Tansania und Kamerun über mögliche Rahmenvereinbarungen zur Aufarbeitung der Kolonialgeschichte. Was sollte hier nach Ihrer Meinung erreicht werden?

Parlamentarische Beteiligung sinnvoll

Antwort MdB Helge Lindh: Im parlamentarischen Raum haben wir bislang keine Informationen von der Exekutive über diese Vorgänge erhalten. Ich nehme unser Gespräch als Anlass, zu diesem Thema nachzufragen. Eine parlamentarische Beteiligung erscheint mir sinnvoll. Generell muss darüber nachgedacht werden, wie sich BKM und AA in solchen Fällen verhalten wollen. Es müsste geklärt werden, ob es für bilaterale Vereinbarungen mit früheren Kolonien eine bestimmte Grundstruktur mit länderbezogenen Anpassungen, die besondere Umstände berücksichtigen, geben soll.

Kommunen alleine überfordert

Ich habe kürzlich an einer Konferenz in Detmold teilgenommen. Dort wurde sichtbar, dass Provenienzforschung und Restitutionsfragen auch im kleinstädtischen und ländlichen Raum von Bedeutung sind. Binationale Konzepte können einen sinnvollen Rahmen für solche Akteure bieten. Auch im Hinblick auf künftige Kooperationen, etwa im wissenschaftlichen Bereich. In der Praxis wird es dafür unterschiedliche Finanzierungsquellen geben. Übergreifende Strukturen können hier hilfreich sein, um unterschiedliche Ebenen im deutschen föderalen System einzubeziehen, denn Kommunen alleine sind überfordert. Erforderlich ist auf jeden Fall eine gute Abstimmung zwischen Bund und Ländern.

Frage: Inwieweit haben Sie sich im parlamentarischen Raum mit der geplanten Agentur für Internationale Museumszusammenarbeit befasst?

Wichtige Rolle für Museumsagentur

Antwort MdB Helge Lindh: In dieser Wahlperiode haben wir die Agentur, die bislang noch nicht operativ tätig geworden ist, im Parlament nur am Rande thematisiert. Die Debatten im Kulturausschuss wurden überwölbt von anderen Themen, z. B. der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und der möglichen Konkurrenz zwischen Postkolonialismus und Holocaust-Gedenken. Die Museumsagentur könnte künftig eine wichtige Rolle für die Aufarbeitung mit dem Kolonialismus spielen und neue Kooperationen auf partnerschaftliche Ebene mit ehemals kolonisierten Gesellschaften befördern. Wie ich gehört habe, fehlt aber auch hier ein Konzept des AA, um gesperrte Mittel im Bundeshaushalt freizugeben.

Frage: Haben Sie sich schon parlamentarisch mit dem in der Koalitionsvereinbarung der Ampel-Regierung aufgeführten Lern- und Erinnerungsort Kolonialismus befasst?

Unglückliche Konstellation bei Rahmenkonzept Erinnerungskultur

Antwort MdB Helge Lindh: Wir waren schon mal weiter an diesem Punkt. In der Vergangenheit gab es Gespräche auf der Fachebene dazu. Hamburg und Berlin haben Ambitionen hinsichtlich eines zentralen Orts angemeldet. Ein alternatives Modell wären dezentrale Erinnerungsorte. Die Entscheidung hierzu ist noch nicht gefallen. Diese Frage sollte im Kontext des Rahmenkonzepts Erinnerungskultur geklärt werden. An dem entsprechenden Entwurf gibt es aber Kritik; der Entwurf wird wahrscheinlich zurückgezogen. Es ist eine unglückliche Konstellation entstanden, weil NS-Gedenkstätten und SED-Erinnerungsorte Sorge haben, dass Mittel gekürzt werden und eine Verlagerung des Interesses stattfindet. Das wäre eine dumme Entwicklung, denn für die Aufarbeitung des Kolonialismus‘ müssen zusätzliche Mittel eingesetzt werden.

Bedauerlich finde ich auch, dass der Antisemitismus in Teilen der Kulturszene und der postkolonialen Bewegung starke Skepsis gegenüber dem Thema Kolonialismus geweckt hat. Denn die Herkunftsgesellschaften haben einen Anspruch darauf, dass wir unsere Kolonialgeschichte aufarbeiten. Im erwähnten Rahmenkonzept soll der Kolonialismus eine Rolle spielen; der Lern- und Erinnerungsort soll dort eingebettet werden. Im Moment ist aber nicht absehbar, inwieweit sich dieses Vorhaben noch in dieser Wahlperiode umsetzen lässt.

Lern- und Erinnerungsort Kolonialismus auch außerhalb des Rahmenkonzepts denkbar

Der Lern- und Erinnerungsort Kolonialismus könnte auch außerhalb des Rahmenkonzepts Erinnerungspolitik verwirklicht werden. Das wäre vielleicht ein kluger Weg, damit nicht der Eindruck entsteht, das ginge zu Lasten von NS-Erinnerung oder SED-Gedenken. Orte der kolonialen Erinnerung sind jedoch komplexe Vorhaben, weil Genozid, Verfolgung, Morde und Gewaltexzesse im Ausland stattgefunden haben. Diese asymmetrische Situation wird viel Denkarbeit auslösen. Wichtig ist auf unserer Seite die Kontrollabgabe, damit wir gemeinsam mit ehemals kolonisierten Ländern vorwärtskommen. Einen kolonialen Gedenkort, an dem die Nachkommen verschiedener Herkunftsgesellschaften beteiligt sind, fände ich sehr schön.

Frage: Welche langfristigen dekolonialen Perspektiven über diese Wahlperiode hinaus schweben Ihnen vor?

Koloniales Unrecht zwingend aufzuarbeiten

Antwort MdB Helge Lindh: Wir müssen sehr wachsam sein. Es ist nicht zu leugnen, dass es zu antisemitischen Äußerungen aus dem postkolonialen Lager gekommen ist. Das muss klar benannt werden. Daraus dürfen wir jedoch nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus suspendiert wird. Wir müssen diese Aufgabe vorantreiben im Bewusstsein, dass das koloniale Unrecht zwingend aufzuarbeiten ist. Jenseits der aktuellen Konflikte zu Palästina/Israel, sollten wir uns auf das reale Geschehen in den Beziehungen zu früher kolonisierten Gesellschaften konzentrieren. Die Shoah ist ein unvergleichliches Unrecht. Die Fälle des historischen Unrechts dürfen nicht gegeneinander verrechnet werden. Das ist weder historisch angemessen, noch moralisch sinnvoll oder politisch intelligent. Dass Teile der Herkunftsgesellschaften, z.B. in Namibia und Südafrika, jetzt völkerrechtlich gegen Deutschland argumentieren, erzeugt Abwehrreaktionen und blockiert den Prozess der kolonialen Aufarbeitung.

Gestus der Demut gegenüber Herkunftsgesellschaften

Wir sollten uns jetzt erst recht auf konkrete Fälle zur Aufarbeitung des kolonialen Unrechts im Gestus der Demut einlassen und mit den Herkunftsgesellschaften zusammenarbeiten, auch wenn das ein schmerzhaften Prozess sein kann. Denn wir sind in einer Art Schicksalsgemeinschaft miteinander verflochten.

Frage: Könnten Sie den erwähnten konkreten Fall in Wuppertal noch etwas ausführen?

Antwort MdB Helge Lindh: Es geht hier um die Gebeine einer Frau aus Australien, die als Teil einer indigenen Bevölkerungsgruppe, den First Nations in Australien, durch einen Menschenhändler verschleppt wurde für Auftritte in Varietés in den USA und Europa. Sie ist dann in Wuppertal verstorben und mutmaßlich auf einem evangelischen Friedhof begraben worden. Das wurde vor längerem herausgefunden und jetzt im Rahmen des verstärkten Interesses am Kolonialismus erneut aufgegriffen. Es muss zunächst geklärt werden, ob es sich wirklich um die erwähnte Person handelt. Dieser Nachweis erfordert wissenschaftliche Untersuchungen und ist mit Kosten verbunden. Ganz wichtig ist es, den Prozess mit den Herkunftsgesellschaften zurück zu koppeln, weil Fragen auftreten, etwa nach möglichen Bestattungsritualen, Verletzung der Totenruhe und ob invasiv vorgegangen werden darf zur Entnahme von Gewebeproben für DNA-Tests. Solche ganz praktischen Fragen spielen eine zentrale Rolle.

Keine eingespielten Verfahren

Geklärt werden muss auch, wie sich die Nachkommen vor Ort informieren können. Um dann zu sagen, wie sie sich die Repatriierung, etwa durch Rituale, vorstellen, und konkret die Rückführung zu planen. In diesem Fall kommt hinzu, dass es Büsten und Gipsabdrucke der Person in Leipzig und Dresden gibt, die auch zurückgebracht werden sollen. Kann das in einem Vorgang gelöst werden und wie wird das finanziert? In diesem Fall könnte es sich ergeben, dass die Nachfahren zweimal nach Deutschland kommen, zuerst für eine Vorab-Erkundung und dann für die offizielle Übergabe. Es gibt es bisher keine eingespielten Verfahren für solche Fälle.

Würde der Beteiligten nicht verletzen

Wir dürfen die Würde der Beteiligten nicht verletzen, indem wir den Nachfahren sagen, wir zeigen euch, wie es gehen muss. Das erfordert permanente Abstimmung und Rückkoppelung und macht das Vorgehen kompliziert und zeitlich aufwendig. Aber die Nachkommen sollen entscheiden. Einige wollen die Rückführung, andere nicht. Wir haben keine Vorgaben zu machen, an die sich die anderen zu halten hätten. Wichtig ist, dass den Herkunftsgemeinschaften von deutscher Seite Hilfestellung, finanzielle Mittel und Ansprechpersonen angeboten werden.